«Irgendwann stellt sich die Frage: Handeln wir im Sinne des/der Patient/in?»

Sabine Camenisch ist Oberärztin auf der Intensivstation des Inselspitals in Bern. Im Interview spricht sie über ihren Alltag und wie Patientenverfügungen schwierige Entscheidungen etwas erträglicher machen können.

27. Juli 2022

Frau Camenisch, Sie arbeiten auf der Intensivstation am Berner Inselspital und sind in Ihrem Team u.a. verantwortlich für die Patientenverfügungen (PV). In welchen Situationen kommen die Patientenverfügungen in Ihrem Arbeitsalltag zum Einsatz?

Camenisch: Im Team sind wir eigentlich alle für Patientenverfügungen verantwortlich. Die Berührungspunkte sind für mich die gleichen wie bei meinen Kolleg/innen. Bei uns sind die Patient/innen meistens nicht mehr ansprechbar. Sie befinden sich im künstlichen Koma, können sich also nicht mehr selber äussern.

Manche Patient/innen kommen nach Operationen, andere nach Unfällen, sind also unvorbereitet auf unserer Station. Manche Therapien gehen schnell und gut. Manchmal gibt es jedoch auch eine lange Phase, in der viele Komplikationen auftauchen, die Therapie andauert und sich irgendwann die Frage stellt: Handeln wir hier im Sinne des/der Patient/in?

Da sich die Patient/innen nicht mehr äussern können, sprechen wir viel mit den Angehörigen. Gleichzeitig versuchen wir herauszufinden, ob sich die betroffene Person irgendwo schriftlich geäussert hat, z. B in einer PV, einem schriftlichen Willen oder einer Registrierung für Organspende.

Das ist für uns als Behandlungsteam wichtig, aber auch für die Angehörigen, da es ihnen die Entscheidung abnimmt. Sie können dann sagen, was im Sinne der betroffenen Person ist.

Haben Sie konkrete Beispiele, bei denen Sie froh waren um eine PV?

Wir haben zum Beispiel eine intubierte Person, die sich im künstlichen Koma befindet und beatmet wird. Wir sehen, sie erholt sich nicht gut, baut auf muskulärer Seite ab. Oder es kommt zusätzlich ein Gehirninfarkt dazu. Dann kommen wir an den Punkt, an dem wir sagen, dass wir mit Behinderungen und Pflegebedürftigkeiten rechnen. Zu dem Zeitpunkt holen wir die PV hervor und schauen, was für den/die Patient/in noch lebenswert ist.

Sabine Camenisch, Oberärztin

«Ob eine Patientenverfügung vorliegt oder nicht: Wir finden zuerst heraus, wer die nächsten Angehörigen sind und laden sie zum Gespräch ein.»

Sabine Camenisch
Oberärztin auf der Intensivstation des Inselspitals Bern

Was tun Sie, wenn weder eine PV vorliegt, der/die Patient/in nicht ansprechbar ist und dennoch Entscheide gefällt werden müssen?

Egal ob eine PV vorliegt oder nicht: Wir finden zuerst heraus, wer die nächsten Angehörigen sind und laden sie zum Gespräch ein. Wir versuchen, schwierige Themen nicht am Telefon zu diskutieren. Es gibt oft die Annahme, dass man kein Recht hat, etwas zu entscheiden, wenn man nicht verheiratet ist. Es gibt zwar eine gesetzliche Grundlage, in welcher Reihenfolge Angehörige entscheidungsberechtigt sind. In der Praxis geht es aber um die Frage, wer der betroffenen Person am nächsten steht, wer ihre Lebenseinstellung und Wünsche bezüglich Lebensende kennt. Meistens sind es die Verwandten, die Eltern, Lebenspartner/innen oder Kinder.  Aber es kann auch eine enge Freundin sein.

Hat die Corona-Pandemie dazu geführt, dass PV ein grösseres Thema sind bei den Menschen?

Ich sehe nur die Spitze vom Eisberg. Ich denke, viele Personen, die wegen Corona eine PV gemacht haben, kommen gar nicht erst auf die Intensivstation. Diese Personen sagen dann nämlich schon, dass sie keine Beatmung möchten.
 

Viele (auch jüngere) Menschen sehen nicht unbedingt die Notwendigkeit einer PV. Mit welchen Argumenten überzeugen Sie diese Menschen?

Ich glaube, für jüngere Menschen ist die Situation anders, weil man sich noch wenig mit dem Lebensende beschäftigt. Es ist auch akzeptabel, dass man als junger Mensch sagt: Ich mache keine PV. Viel wichtiger ist, dass man seinen Angehörigen erklärt, was für einen selber wichtig ist. Damit ist schon ein grosser Schritt gemacht. Es entlastet die Angehörigen, in der konkreten Situation im Sinne des/der Patient/in entscheiden zu können.

SRK Kanton Bern: Liebe Frau Camenisch, vielen Dank für dieses Gespräch.

Patientenverfügung / Vorsorgeauftrag SRK

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