Interview
«Wir möchten alle ernst genommen werden»
Was brauch es, dass Menschen mit Demenz möglichst lange zu Hause leben können? Was tun, wenn sich Betroffene aggressiv verhalten? Ein Interview mit Franziska Wenger, Spezialistin für Alterspsychiatrie.
Welches sind typische Symptome bei Demenz-Erkrankungen?
Da sind zunächst Gedächtnis-, Orientierungs- und Sprachstörungen. Das Kurzzeitgedächtnis nimmt ab, die zeitliche Orientierung wird schwierig oder ein Wort fällt einem nicht mehr ein. Bei fortschreitender Demenz können Betroffene gewisse Handlungen wie sich anzuziehen oder die Zähne zu putzen nicht mehr gut ausführen. Auch die Fähigkeit, sich zu organisieren, nimmt ab – zum Beispiel alles rechtzeitig bereit zu haben für ein Essen. Und Neues zu lernen, wie den Umgang mit einem neuen Kochherd, bereitet Mühe.
Was ist der Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer?
Demenz ist der Oberbegriff. Alzheimer ist mit einem Anteil von mehr als 50 Prozent die häufigste Demenzerkrankung.
Wie schätzen Sie die Gefahren ein, wenn Personen mit Demenz allein leben?
Bei einer leichten Demenz reicht es, Betroffene punktuell im Alltag zu unterstützen. Bei einer mittelschweren Demenz sollten sie nicht mehr allein bleiben. Wenn Betroffene zum Beispiel vergessen, Kochplatten abzustellen oder Kerzen auszulöschen, wird es gefährlich. Gemeinsam kann man versuchen, solche Gefahren zu vermindern und zum Beispiel die Sicherung für den Herd herausnehmen und das Essen mit dem Mahlzeitendienst organisieren. Kritisch ist auch, wenn Betroffene nachts erwachen und ungenügend bekleidet nach draussen gehen.
Welche Verhaltensweisen empfehlen Sie im Umgang mit dementen Menschen?
Niemand möchte das Gesicht verlieren. Wir möchten alle ernst genommen werden, mit dem, was wir sagen – auch wenn es nicht korrekt ist. Korrigieren Sie also Betroffene nicht, wenn sie zum Beispiel den Wochentag verwechseln. Wenn die Krankheit voranschreitet, müssen sich die Betreuungspersonen immer wieder an die Betroffenen und ihre Möglichkeiten anpassen. Dies ist anspruchsvoll.
Was hilft, wenn sprachliche Kommunikation schwierig wird?
Es bewährt sich, einfache Sätze zu machen und langsam zu reden. Abläufe sollten Schritt für Schritt erklärt werden. Betreuende können Handlungen wie Essen zu zerschneiden auch vormachen oder Hilfestellungen anbieten.
Was können Betreuende tun, wenn sich Betroffene aggressiv verhalten?
Sie können zuerst prüfen, ob die Betroffenen verstanden haben, was gerade passiert. Sie müssen zum Beispiel verstanden haben, dass es Zeit ist, auf die Toilette zu gehen. Erst dann sollte man sie bitten, die Hose aufzuknöpfen. Wenn man weiss, was die Betroffenen mögen, kann man an ein bestimmtes Thema anknüpfen, wie beispielsweise an ein früheres Hobby. Dann vergessen sie oft den ersten negativen Gedanken wieder.
Was ist, wenn mich mein dementer Vater nicht mehr erkennt? Lohnt es sich dennoch, ihn häufig zu besuchen?
Ja, denn es ist nicht nur die geistige Wahrnehmung, die zählt. Die Gefühle der Menschen bleiben bis am Schluss erhalten. Ob ein Besuch lohnenswert ist, hat oft mit den Erwartungen der Angehörigen zu tun.
Gemäss Statistiken sind heute etwa 156'900 Menschen an Demenz erkrankt in der Schweiz. Bis 2050 wird sich die Zahl voraussichtlich verdoppeln. Weshalb?
Das grösste Risiko ist das hohe Lebensalter. Bei über 90-Jährigen erkranken ein Drittel an Demenz, bei über 100-Jährigen die Hälfte.
Was schützt vor Demenzerkrankungen?
Im jungen Lebensalter eine gute und lange Ausbildung zu machen. Im mittleren Lebensalter ist eine gute Blutdruckeinstellung wichtig. Gutes Hören und Sehen ist Demenzprävention. Auch im Alter geistig und körperlich aktiv sein, schützt das Gehirn vor dem Abbau geistiger Fähigkeiten. Wichtig ist: Dies ist kein Umkehrschluss. Das heisst man kann nicht sagen, eine demente Person hätte früher nur das Richtige machen müssen, um später nicht an Demenz zu erkranken.
Ist es richtig, dass Demenzerkrankungen (noch) nicht heilbar sind?
Es existieren erste Therapien für die Alzheimererkrankung. Diese haben jedoch zahlreiche Nebenwirkungen und sind noch nicht zugelassen in der Schweiz. Doch es gibt Medikamente, die den Verlauf verlangsamen. Ebenso wichtig ist, dass auch nicht-kognitive Symptome wie zum Beispiel Angst oder Verhaltensstörungen behandelt werden.
Welche (alternativen) Behandlungsmöglichkeiten empfehlen Sie?
Positiv für den Krankheitsverlauf ist, wenn Betroffene, die Tätigkeiten, die sie können, auch selber machen. Und wichtig sind gute Erlebnisse, damit die Person nicht vereinsamt – auch nicht zusammen mit ihrem Partner / ihrer Partnerin. Wenn also eine betroffene Person gerne Musik macht oder Kartenspiele spielt, ist es wichtig, die Aktivität trotz der Krankheit weiterzuführen. Etwas fürs Gemüt zu tun und sich bewegen, wirkt sich positiv auf die Stimmung und auf die Motorik aus. Wichtig ist auch, dass Angehörige gut zu sich schauen. Denn wenn es ihnen möglichst gut geht, geht es auch den Betroffenen besser.
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